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Beitrag vom 29.05.2006
Ab nach Warschau am 9.-15. Juni 2006
Agnes Winklarz
Bereits zwei Mal hat die polnische Regierung den Warschauer CSD verboten. Anlass genug, um sich beim dritten Anlauf kritisch mit dem Mangel an liberalem Gedankengut auseinander zu setzen.
ExotInnen "im Land des Glaubens"
Vom 8.06. - 15.06.06 findet in der Warschauer Innenstadt die Gleichberechtigungsparade 2006 ("Dni Równosci 2006 - Kultura Róznorodnosci") statt: Filmfestival, Diskussionsforum, schwul-lesbischer Straßenumzug, Konzerte und kleinere Veranstaltungen - ganz nach dem Vorbild des Christopher-Street-Days (www.paradarownosci.pl).
Doch was in deutschen Großstädten jährlich Tausende TeilnehmerInnen anlockt, sorgt in Polen bereits seit Jahren für einen handfesten Skandal und zahlreiche Diskussionen. Denn während hierzulande Homosexualität in weiten Teilen akzeptiert, mindestens toleriert wird, sehen sich in Polen konservative Gruppen zu einem Feldzug gegen den sogenannten "Verführer der Familie" gezwungen.
"Etwas andere sexuelle Präferenzen"
Verstärkt wird die ablehnende Haltung gegenüber gleichgeschlechtlichen Liebesbeziehungen durch die Zwillingsbrüder Kaczynski, die die politische Richtlinie Polens maßgeblich mitbestimmen. Gemeinsam besetzen die beiden Männer die höchsten Ämter im polnischen Staat. Lech als Präsident und Jaroslaw als Vorsitzender der gemeinsam gegründeten rechtskonservativen Partei "Recht und Gerechtigkeit" (Prawo i Sprawiedliwosc, PiS). Schon als Lech Kaczynski Stadtpräsident (Oberbürgermeister) von Warschau war, hat er mit seiner homophoben Einstellung für Aufsehen gesorgt. Zweimal hatte er in der polnischen Hauptstadt die "Parada równosci", die "Gleichheitsparade" der Schwulen und Lesben verboten und die Ressentiments gegenüber Schwulen und Lesben geschürt.
Diese zieht es daher zunehmend nach Berlin, in eine Stadt, die sich immer mehr zum Mekka polnischer Homosexueller entwickelt.
"Es sind vor allem junge Lesben und Schwule aus der polnischen Provinz, die nach Berlin kommen", sagt auch Tomasz Baczkowski gegenüber der "taz" Berlin. Der 33-jährige lebt seit zehn Jahren in Berlin, hatte daher die Möglichkeit, die Szene über einen längeren Zeitraum zu beobachten. Seinen Schätzungen zufolge sind 30 bis 40 Prozent der jungen Polen, die in die Stadt kommen, homosexuell.
"Dass Berlin die internationale Hauptstadt von Damen und Herren mit etwas anderen sexuellen Präferenzen ist," ist auch Lech Kaczynski nicht entgangen, der in der gleichgeschlechtlichen Liebe einen "moralischen Werteverfall" und einen "Angriff auf die religiösen Fundamente Polens" wittert: "Es ist kein Problem, dass es Homosexuelle gibt. Die gab es immer, die wird es geben. Das Problem ist aber, dass sie ihre Lebensweise als Alternative für die Mehrheit propagieren." Die Mehrheit - im Fall Polens 90 % der Bevölkerung - ist katholisch, orientiert sich am konventionellen Familienbild mit Mutter, Vater und Kind.
Homosexuelle stellen wie Kaczynski, der Welt am Sonntag erklärte, sowohl "kulturell" als auch "biologisch" eine Gefahr dar, da sie im äußersten Fall, dazu führten, dass "die Menschheit ausstirbt" folgerte er gegenüber einer Aktivistin bei seinem Auftritt in der Berliner Humboldt-Universität, wie die FAZ berichtete.
Unterstützung erhält der Präsident nicht nur von seinem Bruder, sondern zugleich von seinem Parteikollegen Kazimierz Marcinkiewicz, der kurz vor seiner Ernennung zum Premierminister im Oktober 2005, der polnischen "Newsweek" ein Interview gab, in dem er die Unnatürlichkeit der Homosexualität propagierte und dem Staat die Aufgabe zuschrieb die Familie vor einer Ansteckung mit der Homosexualität zu schützen.
Gemeinsamer Kampf "zum Schutz der Familie"
Allein sind sie mit dieser Einstellung jedoch nicht, vor allem Vertreter der Kirche haben es sich zur Aufgabe gemacht "Aufklärungsarbeit" in Eigenregie zu leisten.Sei es mit Hilfe des katholisch-fundamentalistischen Radiosenders "Radio Maryja", der vor allem durch seine ausländerfeindlichen, europaskeptischen und antisemitischen Äußerungen auffällt oder mit Hilfe christlicher Organisationen, die in Form von Broschüren versuchen, die breite Masse zu erreichen.Ansetzen möchte man bei den Jüngsten, weshalb ein 55-seitiges Heft an zahlreiche Schulen in ganz Polen verschickt wurde.
Ein anonymer Autor erklärt, basierend auf den "Erkenntnissen" unbekannter amerikanischer Gelehrter und Psychologen, Ursachen und Folgen der gleichgeschlechtlichen Liebe und zeichnet Homosexuelle, als blut- und fäkalienverzehrende Unmenschen, die sowohl dem Sex mit Kindern, als auch mit Tieren nicht abgeneigt sind.
Ziel ist es, junge Menschen vor der Verlockung gleichgeschlechtlicher Liebe zu bewahren, der nach Recherche des Autors vor allem Kinder atheistischer Eltern zum "Opfer" fielen, aber auch traumatisierte und psychisch Kranke. Doch die Einheit der Familie sehen konservative Gruppen nicht nur durch Homosexuelle bedroht, auch AbtreibungsbefürworterInnen und Feministinnen sind ihnen ein Dorn im Auge.
Abtreibungen auf hoher See
Seinen Ursprung fand die polnische Emanzipationsbewegung im Jahr 1989, was sich in erster Linie durch die zunehmende Öffnung zum Westen erklären lässt. Aber erst 1993, mit der Einführung des Abtreibungsverbotes, fand die Idee weiblicher Gleichberechtigung und Selbstbestimmung eine zunehmende Anzahl AnhängerInnen, sorgte jedoch gleichzeitig für ein reges Tauziehen der verschiedenen politischen Gruppierungen. Um auch polnischen Frauen den Weg zu einer menschengerechten Abtreibung zu ebnen, legte zehn Jahre später die niederländische Frauenorganisation "Women on Waves" mit einer schwimmenden Abtreibungsklinik in einem kleinen Ostseehafen bei Danzig an. Dort nahm sie polnische Mädchen und Frauen an Bord, um außerhalb der 19-Meilen Zone auf hoher See die gewünschten Abtreibungen vorzunehmen.
Die Regierung und die Kirche bereiteten den Aktivistinnen aus Holland einen erwartungsgemäßen Empfang: So wetterte der Erzbischof von Danzig, Tadeusz Goclowski, schon im Vorfeld, die Frauen seien angereist, um "Polen zu töten", aber auch Bezeichnungen wie "Mörder" und "Gestapo" blieben nicht aus.
"In Käfigen einsperren und Kinder gebären"
Schwangerschaftsabbrüche widersprechen den Vorstellungen einer polnischen Familie, die sich vor allem durch Kinderreichtum, Gottesgläubigkeit und Bodenständigkeit definiert, weshalb Polen eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze Europas hat. Abtreibungen sind daher nur in Ausnahmefällen erlaubt, etwa wenn das Leben oder die Gesundheit der Mutter in Gefahr ist. Aber auch dann weigern sich viele ÄrztInnen, den Eingriff vorzunehmen. "Selbst wenn eine Frau nach dem Gesetz ein Recht auf Abtreibung hat, trifft sie häufig auf Barrieren, die den legalen Weg unmöglich machen. Die meisten Frauen versuchen es dann illegal", erklärte Wanda Nowicka, Vorsitzende der "Föderation für Frauen und Familienplanung" dem ZDF. Die Ursache dafür sieht sie vor allem im Diktat der katholischen Kirche, dem die Bevölkerung sich bedingungslos unterwirft.
Auch die Autorin Agnieszka Graff kritisiert im Jahrbuch Polen 2006 die "Tradition, deren Bollwerk die Kirche und deren Symbol und Stütze die traditionelle Rolle der Frau ist." Deshalb gelingt es ihrer Meinung nach nicht, im polnischen Parlament ein Gleichstellungsgesetz durchzubringen, das gemäß den EU-Richtlinien vorsieht, die Gleichberechtigung von Männern und Frauen gesetzlich zu schützen. Vielmehr nimmt man im Parlament die Debatte zum Anlass sich über die "verrückten Feministinnen" lustig zu machen.
Dass in Polen eine "starke fundamentalistische Strömung in Polen" existiert, bestätigt auch Wanda Nowicka: "Am liebsten würden diese Leute Frauen zuhause, oder noch besser in Käfigen einsperren, damit sie dort ungestört Kinder gebären. Doch der Staat zieht sich nach der Geburt schnell aus der Affäre: So muss eine Mutter in Polen monatlich mit umgerechnet 150 Euro für sich und ihre drei Kinder auskommen.
Mehr Infos unter: www.deutsches-polen-institut.de
Der "Warschauer Pakt 2006" organisiert zusammen mit "anders reisen" eine Busreise zum Warschauer CSD am 10.6.2006.
Alle Buchungen und Fragen zur Reise bitte an:
anders reisen
Motzstr. 34
10777 Schöneberg
Öffnungszeiten: Mo.-Fr. 10-19 Uhr und Sa. 10-15 Uhr
Telefon: 030/21 96 88 56
Internet: www.anders-reisen.com
Weitere Informationen über die Gleichberechtigungsparade 2006 erhalten Sie unter:
www.paradarownosci.pl
www.warschauerpakt2006.de
Infos zur Anreise: www.warschauerpakt2006.de/anreise.html
Jahrbuch Polen 2006
Herausgegeben vom Deutschen Polen-Institut Darmstadt
Herausgegeben von Andrzej Kaluza, Jutta Wierczimok
Harrassowitz Verlag Wiesbaden 2006
11,80 Euro
ISSN 1432-5810
ISBN 3-447-05317-8